Lambert-S. Gerstmeier: Warten auf die Zeit

Aus: Programmheft zur Inszenierung von "Warten auf Godot" von Samuel Beckett.
Euro Theater Central Bonn, Premiere am 10. April 1997, Regie Gabriele Gysi.
Original-Beitrag.

"Hören sie endlich auf, mich mit ihrer verdammten Zeit verrückt zu machen? Es ist unerhört! Wann! Wann! Eines Tages, genügt Ihnen das nicht? Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht?"
Pozzo in Warten auf Godot

Hauptereignis in Warten auf Godot ist Wladimirs und Estragons "warten". Dieses Warten wird durch verschiedene Handlungen überbrückt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch der Faktor Zeit. Beckett hebt in Warten auf Godot Zeit und Raum beinahe schon auf. Man erinnert sich nicht an gestern und weiß nicht, wo man gestern gewesen ist: Was war da? Trug der Baum schon Blätter? Wo ist die Zeit? Gibt es sie überhaupt noch? Was ist das: Zeit? Was war das damals 1952, als Beckett Warten auf Godot schrieb? Was ist Zeit heute, in unserer schnell-lebigen Welt? Was verstehen wir heute unter "Zeit"? Alles muß schneller gehen. Telefon reicht nicht mehr, ein Fax ist schon normal. Ein Handy muß sein und eine eMail-Adresse gehört zum Standard. Wer das nicht hat, ist nicht auf der Höhe dessen, was wir nicht mehr haben: Zeit.
- Absurd.
Samuel Beckett gilt als Verfechter der Absurdität des menschlichen Daseins und hat mit Warten auf Godot ein Paradebeispiel dafür gegeben. Er hat mit dem Stück gewissermaßen unserer heutigen absurden Zeit vorgegriffen - und sie gespiegelt. Wladimir und Estragon warten und haben Zeit, sie sind immer an der selben Stelle, im selben Raum. Wir haben heute keine Zeit mehr und überbrücken Räume in atemberaubender Schnelligkeit mit den modernsten Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, ja greifen sogar im wörtlichen Sinne nach den Sternen und wissen dabei manchmal gar nicht, wo wir eigentlich sind.
Samuel Becketts Warten auf Godot ist zeitlos, betrifft uns heute in unserer zeitlosen Zeit um so mehr. Wir müssen wieder lernen, warten zu können. Auf was? Auf wen? Auf Godot? Auf die Menschen. Auf uns. Uns selbst. Jeder auf sich.
Ich warte, also bin ich.