Die Bilder sind stärker als alles andere
Auszüge aus einem Interview mit dem schwedischen Autor Lars Norèn von Lambert-S. Gerstmeier
Aus: Programmheft zur deutschsprachigen Erstaufführung von "Nacht, Mutter des Tages" von Lars Norén.
Theater Basel, 8. Dezember 1986.
Gerstmeier: Wie kommst du zu den Titeln?
Norén: Das ist verschieden.
Jetzt hier bei «Nacht, Mutter des Tages» ist das ja Stagnelius. Und ich meine «Das Lächeln des Unterirdischen» ist ja auch eine Zeile in einem Stagnelius-Gedicht...
Nein, Ekelöf.
Ekelöf. Wie kommt es, daß du sie gerade von einem anderen Gedicht wählst?
Das ist ein Zufall.
Zum Beispiel «Der Mut zu töten» handelt eben vom Mut zu töten, daß man töten muß.
Und dann «Das Lächeln des Unterirdischen», das hieß eigentlich zuerst «Die Seerosen». Ich wurde viel inspiriert - schaute viel Claude Monet im Palais Royal an. Er hat ein Bild gemalt, das heißt «Der Seerosenteich». Das ist das letzte und wichtigste, was er gemacht hat, das ist die Zusammenfassung seines Lebens. Und das Stück beginnt mit dem Monolog, das Mädchen erzählt über sein Zimmer (...), das ist ein langer, langer Monolog, fast zwei Seiten. Der fängt direkt damit an, daß sie sehr ruhig über Seerosen erzählt. Ich liebe den Monolog, aber niemand, der irgendwo das Stück inszenierte, mochte ihn; er wurde gestrichen. Deshalb konnten «Die Seerosen» nun nicht mehr länger «Die Seerosen» heißen, ich war gezwungen, einen neuen Titel zu finden.
Und «Nacht, Mutter des Tages» und «Chaos ist nahe bei Gott» (...), da war ein Gedicht, das ich las, ein Gedicht von Stagnelius. Ich las auch Hölderlin und hatte auch andere Gedichttitel, (...) ich war mir sicher, daß es ein Gedicht sein sollte.
Eigentlich mochte ich solche Titel nicht, ich wollte so präzise Titel wie möglich haben: «Die Depression», «Orestes», «Nachtwache» ist auch ein guter Titel. «Dämonen» ist kein guter Titel für mich. Ich hatte enorme Probleme mit dem Titel (Es hieß früher «Modigliani parken»; L.-S.G.). Ich schrieb auch ein Stück, das hieß «Die Entwässerung», auch ein Titel, den ich mag. «Die Stille» ist auch ein guter Titel, er gefällt mir sehr. («Die Stille» erlebte vor kurzem, am 27. September 1986, in Amsterdam ihre Uraufführung; L.-S.G.)
Ich will, daß der Titel eine Art Laut um das Stück herum haben soll, (...) er soll der Laut sein, der Klang, das Licht von etwas. Das Stück schwebt wie ein Planet, ringsherum ist der Titel. Ich träumte dieses Stück, ein Stück mit dem Mut zu töten. Das war ein Traum und das schrieb ich sehr schnell. Es dauerte drei Wochen, daß ich es schrieb. Ich schrieb das im Frühjahr 78, und dann schrieb ich es um, im Herbst. Es ging zu leicht, ich dachte, das kann nicht gut sein; so schrieb ich es um.
Und so kamen Bilder für «Das Lächeln des Unterirdischen». Ich sah drei, vier Frauen in einem Raum, die sich unterhielten, und das verfolgte mich.
Und dann träumte ich dieses Bild von «Nacht, Mutter des Tages». Ein Junge mit einem Messer...
Bei «Eintagsfliege» sah ich sechs Menschen in einem Zimmer, die sich sehr eigenartig benahmen. (Dieses Stück wurde noch nicht aufgeführt; L.-S.G.)
Die Bilder kamen immer wieder; sie sind stärker als alles andere, was ich machen will.
Wie ist das mit der Länge der Stücke? Die ist ja verschieden. Ich erinnere mich, daß «Nachtwache» am Dramaten (dem königlichen Schauspielhaus in Stockholm; L.-S.G.) ungefähr fünf Stunden dauerte, das war ziemlich lang.
Es dauerte vier Stunden in Bochum. Und das ist auch gewaltig viel in Deutschland.
Weißt du im voraus, wie lang ein Stück werden wird?
Ich habe ein gewisses Gefühl dafür, wie lang es werden kann, werden sollte, aber das ist auch verschieden. Wenn man die Texte auf der Probe liest, in der ersten Probenwoche, - das kann nachher ganz schnell gespielt werden. Ich habe es mir gegönnt, so lange Stücke zu schreiben. In diesem Fall war das eine Absicht, daß «Nachtwache», daß «Die Stille» so lang sein sollten. Das will ich.
Das ist manchmal bemerkenswert, einmal, - wie jetzt mit den «Komödianten», von dem ich dachte, daß es ein sehr kurzes Stück war. Kein Akt war im Manuskript länger als fünfzig Seiten, das sehe ich als ein kurzes Stück für mich an; der zweite Akt hatte vierzig Seiten. Es ergab sich, daß es über vier Stunden dauerte, als wir es für das Fernsehen einspielten. Für mich waren die Bilder sehr kurz (...) als ich es schrieb. Ein kleines Kammerspiel, fast so wie ein kleines Marionettentheater. Und dann dauerte es vier Stunden.
Wie ist das mit den Akten, ich erinnere mich...
Fast immer drei oder vier Akte.
Nicht mehr?
Nein.
Und nicht weniger?
Ich habe in einigen Fällen zwei gehabt. Zwei Akte in einem Stück, das heißt «Die Depression», ein Fernseh-Stück. (...) «Nachtwache» hat drei Akte. (...) Nachdem wir in der Mitte Pause machen, so werden es immer zwei. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber in Schweden will man nur eine einzige Pause von fünfzehn, zwanzig Minuten. (...) Bei «Nacht, Mutter des Tages» und «Chaos ist nahe bei Gott» ist das schwer mit der Pause. Es sollte nur eine Pause sein, aber ich wollte gerne drei haben (beide Stücke haben vier Akte; L.-S.G.), das geht nicht ...
Doch das geht, du mußt sagen, daß du es haben willst, dann muß es der Regisseur machen.
Vielleicht.
Es sind ja meistens auch vier Personen in deinen Stücken. Zwei Paare oder wie in «Nacht, Mutter des Tages» eine Familie.
Ja.
Wird das in den nächsten Stücken so bleiben oder gedenkst du, dein Personal zu erweitern?
Ja, das habe ich schon gemacht, das habe ich schon gemacht. Oh ja, das habe ich schon gemacht. - Du meinst, ob ich mehr Personen auf die Bühne bringen werde?
Ja.
Ja, ja, oh ja. Ich schrieb letztes Jahr ein Stück (...) da gibt es, glaube ich, sechzig oder siebzig Personen. Im Stück «Eintagsfliege» gibt es sechs Rollen.
Hast du eine bestimmte Zeit, wann du schreibst, wann du arbeitest?
Ja. Das kommt darauf an, in welchem Stadium die Arbeit ist. Aber jetzt, wenn ich das Stück richtig los schreibe, so schreibe ich immer nach fünf (...) und dann den ganzen Abend, (...) ich fange mit dem Umschreiben dessen an, was ich geschrieben habe. Und dann schreibe ich ins Reine, dann ungefähr von acht bis zwölf. Aber wenn ich mit einem Stück anfange, kann das rund um die Uhr sein. Das Stück, das ich jetzt schreibe, begann ich im März und komme jetzt zum Schluß vom ersten Akt. Als ich Ende Juni in Urlaub fuhr, wußte ich, wo es lang geht und empfand überhaupt keine Unruhe. Jetzt habe ich überhaupt keine Eile, (...) ich kann am Tag drei Zeilen schreiben. Ich will an meinen Stücken so lange als möglich arbeiten. Oft war das auch so, daß sie lange in meinem Kopf lagen, bevor ich sie niederschrieb, das ging dann ganz schnell. Ein abendfüllendes Stück kann vier bis fünf Monate dauern.
Wenn man einige Stücke von dir kennt, - «Dämonen», «Nachtwache», «Nacht, Mutter des Tages», «Chaos ist nahe bei Gott» usw. usw., sie handeln ja beinahe von den gleichen Personen, beinahe - ist es nun möglich, ich sage jetzt «dein 0evre», vielleicht als ein einziges Stück aufzufassen?
Nein, nein, nein. Wenn du Francis Bacon und seine Malerei anschaust, wenn du Bachs Musik anschaust, so gibt es da Figuren, psychische Figuren, die in Töne übersetzt wurden, es gibt psychische Strukturen, die ständig und ständig wiederkommen. Bei Bacons Malerei siehst du gewisse Grundjuxtapositionen. Ich will also meine eigenen Figuren ausschöpfen, meine psychischen Figuren, bevor ich weitergehe, um dann nicht gehemmt zu werden. Es handelt sich um mein psychisches Niveau, die psychische Intensität, die Türen öffnen kann, bei anderen, die nicht ich sind. - Und das ist nicht das gleiche Stück, oh nein, das ist nicht das gleiche Stück.
Du schreibst ja selbst auch Gedichte. Ist das eine Art Entspannung, das eine vom anderen, oder geht das durcheinander?
Es ist gleichsam beruhigend für mich, wenn ich für die Bühne schreibe. Theater ist mehr eine Entspannung.
Wann begann es, daß du deine Biographie in deine Stücke eingewoben hast?
Das begann wohl bewußt mit «Die Stille» (geschrieben 1984; L.-S.G.). Die anderen Sachen handeln von Dingen in meiner Geschichte, so war das Wichtige in ihnen, wie ich meine Geschichte sah.
Ich dachte jetzt an «Nacht, Mutter des Tages», das ist ja gleichsam biographisch.
Ja, aber das handelt mehr davon, wie ich die Biographie sah, als wie ich sie anwendete.
Das ist ungefähr so: Man kann ja über seine Erinnerungen erzählen; auf verdrängte Weise, schlechte Art kann man darüber erzählen. Das sollte die Wahrheit der Erzählung ergeben: Wie man die Lüge erzählt.
«Die Stille» dagegen ist ohne Masken.
Wenn du nun neue Stücke schreibst, wird die Biographie in sie eingehen?
Nur, nur. Bis man sie weglassen kann.